Bordsteine kommen mir plötzlich extrem hoch vor, jeder Toilettengang will wohl überlegt sein und Treppen sind fast unüberwindliche Hindernisse. Nein, ich bin nicht krank, ich fühle mich eigentlich sehr gut. Wie das zusammenpasst? Ich habe meinen ersten Ultramarathon mit 60km und 3000 Hm hinter mir und fühle mich den Umständen entsprechend … 😉

Los ging dieses denkwürdige Wochenende schon am Donnerstag. Mit meinen Kumpels Peter, Ronny und Niklas ging es ins deutsche Trailrunning-Mekka Grainau um uns dort mit Steve in unserer gemeinsamen Unterkunft zu treffen. Alle 5 waren zum Rennen angemeldet, jedoch auf unterschiedlichen Strecken.

  • Ronny und Niklas gingen das erste mal den Basetrail und damit überhaupt ein Trailrunning-Event an.
  • Peter hatte noch eine Rechnung mit dem Basetrail offen, nachdem er sich letztes Jahr ziemlich quälen musste
  • Steve hatte sich für den aberwitzigen 100km  Ultratrail angemeldet
  • Und ich sollte meinen ersten Ultra in Form des Supertrails mit 60 km angehen

Schon auf der Fahrt war die Stimmung super und die Bierflaschen machten die Runde. Aber nur alkoholfrei, isotonisch und kalorienreduziert ;-). Auch die Tatsache, dass wir bald feststellen mussten, dass wir offensichtlich ein Bett zu wenig in der Unterkunft haben (2 Zweibettzimmer für 5 Leute), tat der guten Laune keinen Abbruch. Da wird einfach das Feldbett ausgepackt und im Kleiderschrank aufgestellt. Tada: 3-Bettzimmer. Der Abend wird mit einem guten Abendessen beschlossen und dann ab ins Bett.

Am Freitag stand alles im Zeichen der Vorbereitung auf das große Event. Frühstück, ein lockerer 8km-Lauf zum Eibsee, Duschen, Expo, Kuchen Essen, Relaxen, Pasta Party, Briefing, Sachen packen.

Der Showdown am Samstag

Zwar war ich schon kurz vor dem Erklingen des Weckertons wach, dennoch habe ich die Nacht eigentlich gut durchgeschlafen. Die Nervosität hat sich also nicht so stark bemerkbar gemacht wie befürchtet. Um 6 Uhr treffe ich mich noch kurz mit Steve zum Frühstück und wir wünschen uns gegenseitig viel Erfolg. Mein Start ist zwar erst um 9:00 Uhr, aber die Busse zum Start gehen um 7:15 Uhr los. Im Bus hört man Dinge wie „Diese Anstiege sind ja eigentlich nicht so meins, ich bin eher so der Typ für flache 24-Stunden-Läufe“. Im normalen Leben wird man für diese Aussage im besten Fall mit großen Augen angeschaut, im schlechtesten Fall eingewiesen. In diesem Bus gibt es ein zustimmendes Nicken, oder gleich die Aufmunterung doch mal den Ultratrail zu machen. Da hat man schließlich 24 Stunden Zeit und genug Anstiege gleich dazu. Nur Verrückte. Die Busfahrt dauert dann auch so ca. 45 Minuten, so dass man nochmal anschaulich vor Augen geführt bekommt, dass der Rückweg doch recht weit ist… Da ich gleich den ersten Bus erwischt hatte, habe ich nun noch eine gute Stunde bis zum Startschuss. Also hatte ich noch ein bisschen Zeit umher zu schlendern und ein paar Fotos zu machen. Danach ging es dann mit Christian, den ich am Vorabend über Steve kennengelernt habe, in die Startaufstellung.

Punkt 9:00 Uhr fällt der Startschuss. Zunächst geht es 4 km relativ flach dahin, bis dann der Aufstieg zum Scharnitzjoch losgeht. Und dieser Anstieg hat es in sich. „Serpentinen werden überbewertet, die Supertrailer sind am Start noch frisch, die schicken wir da gerade hoch“ … das haben sich wohl die Veranstalter gedacht, als sie den Weg ausgewählt haben. Es geht einfach schnurgerade hinauf und auf die nächsten 4 km kommen ungefähr 800 Höhenmeter. Ufff, das ist ein Wort. Ich gebe mir Mühe nicht zu schnell anzugehen, doch wie die anschließende Auswertung zeigt, ist mir das nicht so gut gelungen ;-). Hier frage ich mich schon das erste Mal (und bei weitem nicht zum letzten Mal), ob es wirklich eine gute Entscheidung war die Stöcke zuhause zu lassen. Das habe ich mit Absicht gemacht, weil in 2 Monaten noch ein 50 Meilen Lauf ansteht und da dürfen Stöcke nicht verwendet werden. Also quasi zum Training. Aber bei diesem steilen Einstieg wäre ein bisschen Unterstützung durch die Arme sicherlich hilfreich. Ich rede mir also fleißig ein, dass es die beste Übung für das nächste Rennen ist. Übung macht den Meister, und sowas. Blabla.

Sobald man aus dem Wald tritt wird man jedoch durch eine traumhafte Landschaft für die Strapazen gelohnt. Nach 1,5 Stunden habe ich den ersten Gipfel erreicht und nach einer kurzen Fotopause geht es erstmal lange bergab. Zunächst flitzt man über Almen und Wiesen zwischen Kühen und Pferden hindurch und später geht es über Stock und Stein stufig hinab und eine Stunde später erreiche ich dann den ersten Verpflegungspunkt V5. Gleich danach folgt ein langes Flachstück. Steve hat mich schon davor gewarnt, und ich gebe diese Warnung gerne weiter: DAS ZIEHT SICH. Zunächst geht es einige Kilometer die Leutasch entlang, später dann sogar ein Stück über eine asphaltierte und befahrene Straße. Das ist nicht schlimm, aber langweilig. Und hierbei offenbaren sich nun zwei Probleme für mich:

  1. Mein MP3-Player spinnt. Er sagt er wäre an. Wenn ich Tasten drücke piepst es auch. Aber es kommt keine Musik mehr. Nicht schön, wenn man gerade eine langweilige Strecke läuft.
  2. Ich kann nicht essen! Ich habe zwei leckere Clifbar-Riegel dabei und denke, dass diese gerade Strecke bei gemütlicher Pace genau das Richtige ist um so einen Riegel zu essen. Aber ich bekomme nichts runter. Kein Hunger, keine Lust auf feste Nahrung. So nage ich gaaaanz langsam am dem Riegel rum, lutsche ihn fast. Denn irgendwas muss rein.

Irgendwie hat mich das wohl ein bisschen aus dem Konzept gebracht. Denn vor der nächsten Verpflegungsstation V6 bei 25 km gibt es einen kleinen Gegenanstieg, aber diese vllt. 50 Hm tun mir auf einmal so richtig weh. Ich habe gerade mal einen halben Clifbar-Riegel geschafft und muss jetzt zusehen, dass ich ein bisschen was esse. Obst geht, ein Ministück Brot geht auch, aber mehr nicht. Keine Chance. Also nur Orangen, Gurken und Tomaten und weiter an der Clifbar lutschen. Ich lasse mir hier nun ein bisschen mehr Zeit an V6 und gehe es erstmal gemütlich an. Das Päuschen hat mir gut getan und dazu ist der kommende Streckenabschnitt einfach zu laufen und auch nicht ganz so langweilig. Es geht auf einem netten Weg durch den Wald, nur geringe Steigung und viele Touristen, die einem immer mal wieder ein paar nette Worte sagen. Dieser Abschnitt zum Ferchensee ist die kürzeste Etappe und der Weg zu V7 nur 5 km weit. Dort habe ich das Glück, dass hier ein paar Gels rumliegen. Grundsätzlich mag ich die Dinger geschmacklich nicht besonders, aber wenn man nichts Festes runter bekommt, kann man nicht wählerisch sein. Irgendwie muss man den Tank ja auffüllen.

Danach geht es auf eine lange Etappe rüber zur Partnachalm. Das ist nun auch keine wirklich schöne Strecke, sondern es geht die meiste Zeit über eine Forststraße. Hier finde ich wieder ein gutes Tempo für mich. Laufen ist zwar bergauf nicht mehr drin, aber ich kann mich wieder ganz langsam an eine Leute ranarbeiten, die mich in meiner vorherigen Schwächephase überholte haben. In gleichmäßigem, monotonen Schritt ging es im Rhythmus des Klackerns der Stöcke meiner Mitläufer die Forststraße hinauf  (ja, auch hier wünschte ich mir meine Stöcke herbei … und Musik … ). Nun ereilen meine Oberschenkel die ersten Krämpfe. Nicht plötzlich und nicht richtig schmerzhaft, aber so langsam merke ich wie es bei jedem Schritt ein bisschen mehr krampft. Um dem entgegen zu wirken versuche ich den Laufstil etwas zu variieren: Mal mehr auf dem Vorderfuß bergauf, mal die Ferse aufsetzen, mal die Hände auf die Oberschenkel stützen und dabei ein bisschen massieren. So bekomme ich das ganz gut in den Griff. Ansonsten bin ich so richtig im Autopilot und habe mich nur auf den Downhill am Kälbersteig gefreut. Das war letztes Jahr beim Basetrail mein liebster Abschnitt. Als der Steig erreicht war, dauert es ungefähr einen Schritt, bis die Freude kurzem Entsetzen weicht. Als ich die erste Stufe hinunter springe, sticht es auf einmal in meinem linken Fuß. Keine Ahnung was passiert ist. Nicht umgeknickt, nicht vertreten, es tut einfach am Mittelfuß weh, wenn ich hart aufkomme. Ich versuche noch ein paar Stufen im Laufschritt zu nehmen, aber mit dem linken Fuß geht gerade nichts und es schmerzt bei jedem Versuch nur mehr. Also schminke ich mir den flotten Downhill ab und nehme jetzt jede Stufe wie ein Kleinkind das Laufen lernt: Jede Stufe und jeden Stein mit dem rechten Fuß zuerst runter. Das beschleunigt die Sache natürlich nicht besonders und ich muss viele Leute vorbeiziehen lassen. Sehr ärgerlich, weil ich gerade letztes Jahr im Downhill am meisten Zeit gut gemacht hatte. Der folgende kurze Anstieg zur Partnachalm macht dann wieder etwas Mut. Der ist zwar steil und anstrengend, aber wenigstens stelle ich fest, dass hierbei der Fuß keinerlei Probleme macht. Somit kommt ein DNF an der Partnachalm nicht in Frage. Solange ich schmerzfrei bergauf gehen kann, und runter auch irgendwie geht (nur eben langsam).

An der Partnachalm V8 lege ich wieder eine längere Pause ein und diesmal geht sogar ein Stückchen Käse rein. Mehr leider nicht und so fange ich nun an meinen zweiten Riegel abzuknabbern. Das muss jetzt sein, weil nun der finale Anstieg auf mich wartet. Nach V8 geht es zunächst mal noch ein paar Kilometer relativ flach dahin. Irgendwo auf diesem Stück überspringt die Anzeige meiner Uhr die 42,2km Marke und ich denke mir nur: Egal was jetzt noch kommt, den Ultra hab ich schon mal im Sack. Doch die Freude währt nur kurz, denn jetzt wird es interessant. Ein garstiges Serpentinenstück schraubt sich durch den Wald nach oben. 600 steile Höhemeter im Zickzack. Hier hat sich nun eine Gruppe von ca. 10 Leuten gesammelt und wir nehmen das Ding gemeinsam in Angriff. Langsam geht es in der Kolonne nach oben. Auf einmal fällt der Läufer direkt vor mir um: Wollte sich mit dem rechten Bein gerade eine Stufe hochdrücken, Wadenkrampf, da liegt er. Ich eile zur Hilfe, drücke seinen Fuß durch und nach einer halben Minute kann er weitergehen. Die letzten 100 Hm werden für mich mühsam. Nachdem ich unser Grüppchen eine halbe Stunde lange sogar angeführt hatte, muss bei den letzten Kehren jeweils ein kurzes Päuschen machen. Die Kraft ist weg. Ich fühle schlapp am ganzen Körper. Ist das ein Hungerast? Keine Ahnung wie sich sowas anfühlt, aber ich habe definitiv zu wenig gegessen. Das könnte sich gerade rächen. Aber wie es bei so einem Ultra scheinbar immer ist: Es geht immer irgendwie weiter und dann stehe ich irgendwann bei V9.

Jetzt gelingt es mir das erste mal an einer Verpflegungsstation etwas zu essen. Ich nehme ein Stück Kuchen, Nüsse und auch etwas Brot. Wieder zu wenig, aber besser als nix. Jetzt sind es nur noch 400 Hm. Die packe ich auch noch. Kurz nachdem ich V9 verlassen habe, wundere ich mich wo die Musik herkommt. Hört man das etwa von Grainau bis hier hoch? Es dauert dann noch ein paar Minütchen bis ich registriere, dass mein MP3-Player für die Musik verantwortlich ist. Ich hatte einfach nur die Höhrer weggepackt, weil ich dachte das Ding sei eh aus. Aus irgendeinem Grund kommt dann ein paar Stunden später wieder Musik raus. Soll mir recht sein. Etwas musikalischer Support ist genau das richtige für den letzten Aufstieg. Der ist zwar nochmal knackig, aber eigentlich genau das was ich nun brauche. Eintöniges Hochtrotten zu irgendeinem Beat. 100m vor Schluss versagt die Musik wieder, aber das ist dann auch egal. Ich habe es geschafft. Jedenfalls nach oben. Jetzt „nur“ noch nach unten. Ich renne los Richtung Downhill, springe die erste Stufe hinab … Aber halt, da war was … genau … Aua. Es sticht gleich wieder im linken Fuß. Also wieder die bewährte langsame Technik. Auf diese Art geht es nun den gesamten Downhill hinab. Flache Passagen kann ich langsam laufen, aber bei jeder Stufe muss ich langsam machen. Bei V10 halte ich mich nicht mehr lange auf und gehe weiter hinab. Hier muss ich nochmal eine Reihe anderer Läufer vorbei ziehen lassen. Erst gegen Ende des Abstiegs, wenn steinige Stufenwege weichem Waldboden weichen, kann ich wieder schmerzfrei in einen Laufschritt übergehen. Ein paar rutschige Passagen geht es noch hinab und dann stehe ich unten in Grainau. Nur noch 2 km, dann ist es geschafft. Ich mobilisiere die letzten Kräft und kann mich tatsächlich noch zu einer Pace von 6:00 zwingen. Das soll ja alles noch dynamisch aussehen *g*. Ein paar 100 Meter vor dem Ziel wartet Peter bereits auf mich und rennt die letzten Kurven mit mir. Und dann habe ich es geschafft. Nach 10:54 Stunden darf ich endlich sagen: ICH BIN ULTRA.

Abspann

Eigentlich wollte ich noch ein bisschen was zum restlichen Abend schreiben, zu Steves Einlauf, zur Siegerehrung samt Weisswurstfrühstück am nächsten Morgen, zur Heimfahrt, die fast genauso lange gedauert hat, wie mein Lauf …. aber dafür ist es jetzt zu spät und ich muss Morgen arbeiten. Ich will den Beitrag aber heute noch fertig bekommen. Deshalb bleibt mir nur noch DANKE zu sagen an Peter, Niklas, Ronny und Steve. Es war ein geniales Wochenende von Vorne bis Hinten, von A-Z, von Start bis Ziel, von Abfahrt bis Heimankunft. Weiterhin eine riesige Gratulation an Peter, Niklas und Steve, die für ihre Läufe jeweils ihre Erwartungen übertroffen haben. Und auch Gratulation an Ronny, der leider an der Partnachalm aussteigen musste, der aber hoffentlich trotzdem ein schönes Wochenende mit vielen genialen Eindrücken hatte.

Steves Bericht
Der Lauf bei Movescount
Der Lauf bei Strava

Und Entschuldigung: Ab Ferchensee hab ich wohl meine Kamera etwas vorschwitzt und es immer ein Tropfen auf der Linse … aber das macht es ja authentisch 😉